express 7-8/2023 erschienen!

express 7-8/2023 erschienen!

Inhalt

Gewerkschaften Inland

Nuria Cafaro: »Die einzige Waffe ist der Streik?« – Ein Rückblick auf die »wilden« Streiks 1973 4

Ulrich Maaz: »Transformation, Fachkräftemangel, Digitales und mehr?« – Gewerkschaftsspiegel     10

Ver.di / GEW / DBSH: »Wo Soziale Arbeit drauf steht, muss auch Soziale Arbeit drin sein!« − Entprofessionalisierung als Antwort auf Personalnot     15

Betriebsspiegel

GK ZAUM: »Verkehrswende jetzt« − für Klimaschutz und gutes Leben. Diskussionsangebot des Gesprächskreises Zukunft Auto Umwelt Mobilität der RLS     1

Die Bahn kommt… aber nicht von allein: Zu Besuch in der Verkehrswendestadt Wolfsburg. Ein Gespräch mit Tobi Rosswog 2

Karen Spannenkrebs: »Zu wenig, zu viel, genug Gesundheitsfachkräfte?« − Über die internationale Anwerbung von Pflegekräften und Ärzt:innen 8

vdää*/CEBES: »Pflege neokolonial« − Positionspapier zur Anwerbung von brasilianischem Gesundheitspersonal in Deutschland     9

Marcus Schwarzbach: »Lobbyismus statt Streiken?« − Unternehmen treiben Digitalisierung voran, Diskussion über Tarifverträge zu KI fehlt     18

Politik & Debatte

Renate Hürtgen: »Das Schlimmste aber ist diese linke Überheblichkeit« − Replik auf Daniel Kreutz (SoZ 5/2023)     19

Internationales

Guido Caldiron: »Die Polizei, dein Feind und Mörder« − Die Pädagogik der Unterdrückung führt Frankreich in die Katastrophe. Gespräch mit Alain Bertho     11

Ingrid Artus: »Lila, laut und massenhaft« − Ein Bericht vom Schweizer Feministischen Streik in Zürich     12

Samuel Kammermeier, Peter Haumer: »Streikwelle in Ganztagsschulen Österreichs« − Der Kampf der Freizeitpädagog:innen sorgt für Aufsehen     14

Re-visited

»Alaaf statt brav« − Wiedergelesen: eine Analyse des express von 1974 zu den »wilden« Streiks bei Ford Köln     6

Kultur und Buch

Andreas Bachmann: »Weder Streikrepublik noch Streikwüste« − Heiner Dribbusch legt ein Buch zur Arbeitskampfentwicklung seit 2000 vor     16

Juliane Huber: »Archiv der Lebensschicksale« − Eröffnungsrede zur Ausstellung »Kofferkinder« (Bildstrecke)     20

Nachruf

Anne Allex, 1958 – 2023 19

Editorial

Geneigte Leserinnen und Leser,

bereits im Mai wollten wir anlässlich der Streikkonferenz das 50-jährige Jubiläum der »wil­den« »Gastarbeiter«-Streiks Revue passieren lassen. Das hat nun mit Nuria Cafaro die Mode­ratorin der dortigen AG zu just diesem Thema übernommen (S. 4). Ergänzt haben wir ihre Rückschau durch ein Zeitdokument: das Kapitel über Ford Köln im August 1973 aus dem 1974 vom damaligen express-Redaktionskollektiv herausgegebenen Buch »Spontane Streiks 1973« aus der »Reihe Betrieb und Gewerkschaften« (S. 6).

Aber das Thema historische »Gastarbeit« ist mit dem Thema »Streik« nicht abgedeckt – so wollte und will es höchstens die Kartoffel-Linke gerne haben. Deswegen freuen wir uns be­sonders, mit den Aquarellen von Fatma Biber-Born ein anderes, eher unterbelichtetes Thema dieser Geschichte fokussieren zu können: die Geschichte der daheim gebliebenen Familien­mitglieder, konkret der sogenannten »Kofferkinder«. Die ehemalige Rewe-Betriebsrätin Fat­ma Biber-Born ist in die Türkei gereist, hat mit den (heute 45 – 65-jährigen) Kindern gespro­chen und – angesichts der Qualität der Originale – die damaligen Kinderfotos abgemalt. Ne­benbei bemerkt ist auch die Frage der daheim gebliebenen Ehepartner:innen (in der Regel Ehefrauen) ein spannender Aspekt der Geschichte der Reproduktionsarbeit. Dazu aber viel­leicht ein anderes Mal, für dieses Mal haben wir einen ausführlichen Bericht des Schweizer feministischen Streiks von Ingrid Artus vorliegen (S. 12).

Migration und Reproduktionsarbeit liegen nah beieinander, ach was, überlappen sich – 1973 wie heute. Karen Spannenkrebs setzt in der aktuellen Ausgabe die Beschäftigung mit heutigen »Anwerbeabkommen« in der Pflege fort (S. 8), ergänzt durch ein Positionspapier unserer Freund:innen vom Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää) zur Anwerbung brasilianischer Gesundheitsarbeiter:innen (S. 9).

Gemeinsam mit einem Statement der zuständigen Gewerkschaften zu den Zuständen in der Sozialen Arbeit (S. 15) und einem Bericht von den Streiks der österreichischen Freizeitpäd­agog:innen (S. 14) ist die Sommerausgabe damit recht »care-workig« geworden – auch Mar­cus Schwarzbachs Beitrag zur KI (die an dieser Ausgabe des express erneut nicht beteiligt war!) berührt das Verhältnis reproduktiver und produktiver Arbeit (S. 18).

»Das alles und noch viiiiel meeeah…« passt mal wieder nicht auf die üblichen 16 Seiten des express. Diesmal haben wir aber ganz regulär 20 Seiten produziert, denn ihr haltet die Som­mer-Doppelausgabe in der Hand. Dass der express nicht dicker aussieht als sonst, liegt daran, dass wir von Februar bis Juni immer zu viel produziert haben. Soll heißen: wir lesen uns erst im September wieder. Solange verbleiben wir als Eure Redaktion »zwischen den (Sonnen-)Stühlen«, jedoch nicht, ohne zu guter Letzt noch mal auf den beiliegenden Spendenaufruf hinzuweisen (spät, aber kommt!) und coole Urlaubslektüre für hitzige Debatten in klimatisierten Zeiten zu wünschen.

Bildnachweis

Die Ausstellung »Kofferkind« von Fatma Biber-Born beschäftigt sich künstlerisch mit dem Schicksal zurückgelassener Kinder, deren Eltern als Gastarbeiter:innen in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen. Die Kinder blieben oft bei Großeltern, Tanten, Onkeln oder Nachbar:innen im Heimatland zurück. Sie wuchsen ohne Eltern auf. Ein Schicksal, das schätzungsweise 700.000 Kinder türkischer Gastarbeiter:innen teilen.

Dazu hat Fatma Biber-Born einige der damaligen »Kofferkinder« getroffen, mit ihnen über das Erlebte gesprochen und Bilder aus ihrer Kindheit gesammelt. Inspiriert von diesen Bildern, hat sie die Schicksale der Kinder malerisch in Aquarell und Tusche festgehalten. Kurze Eindrücke und Zitate aus den Interviews, die Fatma Biber-Born mit den heute 45 bis 60jährigen geführt hat, präsentiert sie hinter Transparentpapier. Die Eröffnungsrede zu der Mannheimer Ausstellung, die mit Erscheinen dieser Ausgabe nur noch wenige Tage im CommunityARTCenter in Mannheim zu sehen ist, haben wir auf S. 20 dokumentiert.

Wir danken der Künstlerin sowie allen Beteiligten für die freundliche Zurverfügungstellung der Bilder!

Re-Visited: Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen

Re-Visited: Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen

Dokumentation der Jubiläumskonferenz des express am 8. Oktober 2022

Vor 60 Jahren haben wir begonnen. Wir haben uns durch die Zeit geschlagen. Mit Auf­brüchen, Ölkrisen und Massenentlassungen, Ausschlussverfahren und Radikalenerlassen. Wir haben renitente Kämpfe inner- und außerhalb der Betriebe angestachelt, sichtbar gemacht oder in Erinnerung gerufen. Haben mit internationalistischer Brille die Piefigkeit der Bonner Republik verlacht und gegen Verzichtslogik genauso angeschrieben wie gegen das nationale Kohlsche Einheitsgebrabbel. Wir haben fortwährend nach Spuren des Aufbruchs im Kleinen gesucht, an der Werkbank, im kollektiven Prozess und der rebellischen Behauptung der eige­nen Würde und Handlungsmacht gegen Chefs und Leistungsideologie.

Wir haben uns eingemischt und rumgestritten, Haltung bewahrt und fortwährend für orga­nisierende Dynamik von unten plädiert. Und: Wir sind trotz der Widrigkeiten so mancher Zeit nicht verrückt geworden. Wir sind noch da.

Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten beiden Jahrzehnten Debatten über Organizing als Versuch der (Re-)Dynamisierung der Routinen so oft in unserem Heftchen wiedergefunden haben. Gleichwohl nehmen wir vieles von dem, was heute als Organizing etikettiert wird, vor allem als methodisches Werkzeug und nicht als strategisch und inhaltlich bestimmte politische Vorgehensweise wahr. Warum auch sollte sich hier der Zeitgeist nicht ebenso einschreiben wie an anderer Stelle?

Genau deswegen bietet ein Jubiläum sich dafür an, gemeinsam zurückzuschauen, um nach vorne zu blicken. Wir haben uns gefragt, was frühere Erfahrungen und Experimente in und um Organizing aus den 1970ern und 1980ern heutigen Praxen zu sagen haben – und anders­rum. Welche Fragen sich weiterentwickelt haben und wo Dinge verloren gegangen sind.

Mit Euch und zahlreichen Referent:innen aus Gewerkschaften, der Sozialen Arbeit, aus Hochschulen, Stiftungen und Sozialen Bewegungen, haben wir einen nach vorn ge­richteten Generationendialog geschafft, den wir an dieser Stelle in Gänze dokumentieren.

Einführung

Begrüßung und Einführung durch die Redaktion

Florian Wilde: Geschichte des Organizing in Deutschland

Seit fast 20 Jahren sammeln deutsche Gewerkschaften Erfahrungen mit aus den USA übernommenen Organizing-Ansätzen, die sich zunehmend auch in der gewerkschaftlichen Regelarbeit wiederfinden. Florian Wilde gibt einen Überblick über die Geschichte des Organizing in Deutschland, ausgehend vom ersten Projekt im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe 2006, in dem er damals mitarbeitete, über den anschließenden Hype ums Organizing und die folgende Ernüchterung unter linken Gewerkschafter:innen, bis hin zur einer zweiten, von Jane McAlevey inspirierten Organizing-Welle der letzten Jahre. Dabei versucht er, die von der amerikanischen SEIU-Gewerkschaft mitgeprägten frühen Organizing-Ansätze als real eher Mobilizing-orientiert kritisch zu reflektieren, zugleich aber die emanzipatorischen Potentiale des Organizing aus einer linken Perspektive zu verteidigen und in die Bemühungen um eine Stärkung und Erneuerung der Gewerkschaften einzubetten.
Dr. Florian Wilde arbeitet als Referent für aktivierende und internationale Gewerkschaftspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist u.a. (Mit-)Herausgeber von »Politische Streiks im Europa der Krise« (Hamburg 2012) sowie der Jane McAlevey-Bücher »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing« (Hamburg 2019) und »Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie« (Hamburg, 2021) und betreibt den Textarchiv-Blog https://wildetexte.florianwilde.org.

Slave Cubela: Anger – Hope – Action

Slave Cubela arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt als Organizer bei einer großén deutschen Gewerkschaft und übt sich privat gerne als Publizist. In seinem Input lotet Cubela aus, inwiefern Organizing tatsächlich eine gewerkschaftliche Erneuerung bewirken kann. Seine Zweifel begründet er nicht nur mit Blick auf die USA, wo die Gewerkschaften trotz Organizing-Praxis und punktueller Erfolge nach wie vor in der Defensive sind. Auch die Beharrungskräfte innerhalb der deutschen Gewerkschaften, also ihr Festhalten an traditionellen Politikmustern und vor allem an der Stellvertreter-Logik, sind nach Cubela Grenzen, die Organizing nicht ohne Weiteres überwinden wird.

Yanira Wolf: Haltung bewahren – Renitent bleiben im Organizing

In ihrem Beitrag stellt Yanira Wolf Verbindungen zwischen der Organizing Praxis und feministischen Auseinandersetzungen her. So beschreibt sie z. B. das der Fokus auf Beziehungsaufbau, die enge Unterstützung bei persönlichen Emanzipationsprozessen und der kollektive Umgang mit Schwierigkeiten und Scheitern wesentliche Fürsorgearbeit darstellt, die in der Organizing Methode angelegt sind. Gleichzeitig fragt sie, ob dies in der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Kultur tatsächlich gelebt werden kann – und was es dafür bräuchte.

Michael May: Organizing und Soziale Arbeit

Michael May referiert zum einen über die intersektionalitätssensible Weiterentwicklung des Organizing-Konzeptes zu einer übergreifenden Politik des Sozialen, zum anderen darüber, im Organizing-Prozess auch einen Raum zu eröffnen, dass subalterne Gruppen eine eigene Stimme entwickeln.
Michael May ist Professor für Theorie und Methoden Sozialer Arbeit unter besonderer Berücksichtigung der Gemeinwesenarbeit an der Hochschule RheinMain und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.

Organizing in der Diskussion

Offene Debatte über die Inputs auf der Tagung des express mit zahlreichen Kommentaren ehemaliger und aktiver Redakteur:innen des express und Mitglieder des Sozialistischen Büros.

Abschlussbetrachtung

express-Redakteur Jakob Stengel fasst die Diskussion der Tagung zusammen und gibt einen Ausblick auf anstehende Aufgaben.

Die Dokumentation der Tagung „Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen“ wurde mit Mitteln der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt realisiert.