express 03-04/2023 erschienen!

express 03-04/2023 erschienen!

Inhalt

Gewerkschaften Inland

Thilo Hartmann: »Dürfen Beamt:innen streiken?« –
Bericht von der Anhörung vor der Großen Kammer des EGMR                                      1

Freddy Adjan und Johannes Specht: »Eine Branche für sich« –
Hohe Lohnsteigerungen tarifpolitisches Ziel der NGG für 2023                                      4

Lukas Leslie: »TVStud in der Offensive« –
Bericht von der bundesweiten Organizing-Konferenz der TVStud-Bewegung                6

Ulrich Maaz: »Warn- und Warmstreiken« – Zum Stand der Tarifrunde TVöD                6

Heiner Dribbusch: »Ergebnis ohne Erzwingungsstreik« –
Zum Verhandlungsergebnis bei der Deutschen Post                                                          7

Betriebsspiegel

»Ende des industriellen Tiefdrucks absehbar« –
ein Gespräch mit Martin Dieckmann                                                                                  8

Hermann Büren: »Verantwortung ohne Macht« –
Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden                                        12

Politik & Debatte

Torsten Bewernitz: »Kritik der politischen Ökologie« −
jenseits von Green New Deal und Ökosozialismus?                                                        15

Achim Schill: »Die ›Sturmgeschütze der Demokratie‹« –
Proteste gegen Kriminalisierung von Radio Dreyeckland                                                18

Internationales

Ingeborg Wick: »Mein Boss, der Algorithmus« –
Internationales Treffen zu Arbeitskämpfen und Organizing in GIG-Ökonomie               9

»Frau, Leben, Freiheit« −
Charta der Mindestforderungen unabhängiger Organisationen im Iran                           17

Przemysław Wielgosz: »Ein Krieg, der eine und der andere Westen« −
Kommentar zum Ukraine-Krieg                                                                                       19

Roland Erne zur EU-Mindestlohnrichtlinie                                                                      19

Renate Hürtgen: »Was ist eine halbe Solidarität wert?« –
Kritische Fragen an den Aufruf für gewerkschaftliche Solidarität                                  20

Rezensionen

Peter Nowak: »Ungenügsam« – Bündnis »Genug ist genug« übt Streiksolidarität          3

Jonas Berhe: »Ist das Antirassismus oder kann das weg?« –
über die vieldebattierte »Diversität der Ausbeutung«                                                     11

Editorial

Geneigte Leserinnen und Leser,

das Leid einer jeden Monatszeitung ist es, nicht adäquat auf aktuelle Ereignisse reagieren zu können. So hat uns für die aktuelle Ausgabe etwa die Tarifrunde bei der Post Schwierigkeiten bereitet – das Bangen um den Ausgang der Urabstimmung, die Frage, ob ein unbefristeter Streik ansteht und nun zum Redaktionsschluss die Frage, ob das neue Verhandlungsergebnis angenommen wird. Ähnlich geht es uns beim Streikgeschehen in Großbritannien und Frank­reich.

Die Frage der Erscheinungsweise betrifft auch einen weiteren Aspekt: Im zwar lichter wer­denden, aber immer noch buntscheckigen linken Blätterwald bemühen wir uns um Exklusivi­tät und versuchen, unserem Untertitel gemäß, Themen und Texte in den Mittelpunkt zu rü­cken, die sich anderswo nicht lesen lassen. Der express ist ein »special interest«-Medium, das manchmal auch Themen von äußerstem Belang außen vor lässt, weil diese an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt werden und wir euch, liebe Leserinnen und Leser, zutrauen, in­formiert zu sein und euch eine ›eigene Meinung‹ gebildet zu haben, wie es Springers heißes Blatt ausdrücken würde.

Dies betrifft seit einem Jahr insbesondere den russischen Krieg gegen die Ukraine. Kürzlich wurde in einer Zuschrift gemutmaßt, wir würden deswegen so wenig zum Thema schreiben, weil es innerredaktionelle Differenzen gäbe. Nun, diese halten sich bislang in Grenzen – und so wenig haben wir zu dem Thema auch nicht veröffentlicht, allerdings lag der Fokus nach den grundlegenden Beiträgen vor ziemlich genau einem Jahr (express 4/2022) eher auf As­pekten der Auseinandersetzung, die anderenorts und vor allem in den Disco-Soaps einschlägi­ger »Talk«-Formate wenig bis gar nicht thematisiert wurden.

Aus verschiedenen Zuschriften an die Redaktion ist uns aber bekannt, dass innerhalb unserer Leser:innenschaft durchaus Differenzen bestehen bzw. sich im Verlauf des Kriegsgeschehens entwickelt haben. Da express-Leser:innen nie einfach nur Leser:innen sind, gehört es zu unse­rem Anspruch, solche Debatten abzubilden. In diesem Sinne erscheinen in der vorliegenden Ausgabe zwei Beiträge zum Thema (S. 19, 20).

Beide Beiträge spiegeln aber nur eine Position. Innerhalb der Redaktion haben vor allem die Beiträge »Knoten im Kopf« von Ingar Solty (junge welt, 1. März 2023) und der Beitrag Jens Wissels »Wake me up when the Apocalypse is over« bei unserer Online-Schwester-Zeitung links-netz für Aufmerksamkeit und letztlich doch für innerredaktionelle Kontroversen (self-fulfilling prophecy) gesorgt.

Jens Wissel hat in seinem Beitrag mit Rekurs auf Rául Sánchez Cedillos »Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine« (Wien u.a. 2023) einen entscheidenden Aspekt dieser innerlinken Kon­flikte auf den Punkt gebracht: »Putin darf den Angriffskrieg nicht gewinnen, zugleich muss das Morden im Krieg aufhören und die Gefahr einer atomaren Eskalation vermieden werden. Diese Konstellation lässt sich nicht ungebrochen und ohne moralischen Schaden zu nehmen nach einer Seite auflösen.«

Sieht man von ein paar tatsächlich rechts-offenen autoritär-liberalen Putin-Freund:innen ab (wie etwa in AfD und DKP), sollte das einen Grundkonsens in der linken Öffentlichkeit dar­stellen. Die Differenzen bestehen dann vor allem in der Bewertung der Gefahrenlage und in der Wahl von Gegenmaßnahmen. Solche Differenzen sind überwindbar, zumindest in dem Sinne, dass ein Dialog zwischen den Positionen möglich sein sollte – ein Dialog, der gesell­schaftskritische Stimmen egal in welchem Land aufnimmt und stärkt und sich gerade nicht funktionalisieren lässt für »nationale« Parteinahmen und -gänge.

Rául Sánchez Cedillo benennt in seinem Buch noch einen anderen Aspekt, der darauf hin­weist, dass es in Sachen Ukraine zumeist wohl doch eher um die »deutsche Volksseele« – oder aber um linke Befindlichkeiten – geht: Aktuell sind rund 30 kriegerische Konflikte welt­weit zu verzeichnen, die ebenfalls einer ethischen wie einer geostrategischen Bewertung be­dürften – ganz abgesehen von der Solidarität mit den betroffenen Menschen. Warum wird die Frage der Parteinahme, der Solidarität und entsprechender Waffenlieferungen auf die Ukraine beschränkt?

Über diese Frage hinaus – wir sind ja kein Fachblatt der Friedens- und Konfliktforschung – gibt es einiges zu besprechen: die Frage des Zusammenhangs von Klima und Klasse (S. 15f.), die globalen Rider-Proteste (S. 9f.) oder auch die grundlegende Frage, wie denn das Kapital heute in den Unternehmen durchregiert bzw. die Arbeiter:innen sich selbst regieren lässt (S. 12f.) – das sind nur diejenigen Themen von Belang, die es in diese Ausgabe geschafft ha­ben, während andere anstehen müssen.

Geneigte Leserinnen und Leser, euch liegt mal wieder eine dickere, zwanzigseitige Ausgabe des express vor. Diesmal ganz planmäßig, denn in euren Händen liegt die Doppelnummer März/April. Der express 5/2023 wird im Mai bereits frühzeitig erscheinen, damit er auf der von uns in einer Medienpartnerschaft unterstützten Streikkonferenz der Rosa Luxemburg Stif­tung in Bochum vorliegt. Wir sehen uns dort – und wem bis dahin der extradicke express nicht reicht, der und dem sei diesmal ausdrücklich ein Blick auf unsere Homepage empfohlen (siehe »Hausinterna« aus der Redaktion, S. 3)!

Bildnachweis

»Du bist mein Heldin – isch feier disch« – keine Frankfurter U-Bahnfahrt, kein Mensabesuch in der FH vergeht, ohne Zeugin dieser im Nebengespräch ausgetauschten Verehrungsfloskel zu werden. Vielleicht liegt die Wahrheit dieser leichthin dargebrachten Wendung zur Huldi­gung der Held:innen des Alltags in der Alltäglichkeit der Hürden und der Überwindung dieser Alltäglichkeit zugleich. Und das ist es auch, was die Heldin Madeleine in der wunderbar düs­teren, ganz in blau-grau-schwarz gehaltenen Grafic Novel »Madeleine, die Widerständige«, deren erster Teil Ende 2022 im avant-verlag erschienen ist, so einnehmend macht. Ja, sie war eine Frau, sie war in der Resistance und hat gegen die Nazi-Besatzer:innen gekämpft, aber nein, sie war keine Feministin, war nicht politisch organisiert, und sie hatte Angst. Lassen wir Madeleine Riffaud für einen kurzen Moment selbst sprechen: »Ich suchte immer die Wahr­heit. Ob während der Besatzung, in der Résistance gegen die Nazis kämpfend, in den Kerkern der Gestapo in Paris, oder während der Befreiung der Stadt. Nach dem Krieg suchte ich wei­ter, als Journalistin im Maghreb, in Asien, und überall dort, wo Völker im Elend gegen ihre Unterdrücker kämpften. Oh, das war kein Spaziergang (… ) Aber ich würde es jederzeit wieder genauso machen! Ich bin kein Symbol. Ich bin keine besondere Frau. Was ich getan habe, ha­ben Hunderte, Tausende andere auf der ganzen Welt gemacht. Und ihr könnt es auch.« Was würde besser in diese Ausgabe passen – zwischen Frauentag, »Frau, Leben, Freiheit« und Kriegsdebatten. Chapeau, Madeleine und alle, die mit ihr sind. Danke an den avant-verlag für seine verlegerischen Heldentaten.

»Madeleine, die Widerständige«, Bd. 1

Bezug: avant verlag Berlin, 128 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-96445-080-7, 29 Euro

Charta der 20 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Iran

Charta der 20 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Iran

Die Charta der Mindestforderungen[1] wurden von 20 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterzeichnet. Alle diese Organisationen kämpfen im Iran seit vielen Jahren für die Rechte der Lohnabhängigen, für die Menschen- und Bürger:innenrechte, für die Gleichberechtigung der Frauen und gegen jegliche Form der Unterdrückung. Die Charta stellt eine kritische Reflexion der gegenwärtigen Zustände im Iran dar, darüber hinaus werden erste politische Konsequenzen aus den Protesten gezogen. Die Unterzeichner:innen sprechen enthusiastisch von „erste[n] Verfügung[en]“ der Proteste, obwohl die in der Charta formulierten „Mindestforderungen“ in ihrem Inhalt und Bezugsrahmen nicht ganz neu sind. Angesichts der gegenwärtigen politischen Situation lässt sich die politische Relevanz der Charta auf drei Ebenen festmachen: Erstens wagen sich unabhängige gewerkschaftliche Organisationen – vermutlich zum ersten Mal seit der iranischen Revolution 1979 – über ihre unmittelbaren ökonomischen und betriebsbedingten Forderungen hinaus und stellen zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen politische Forderungen auf. Zweitens grenzen sich die Unterzeichner:innen von der rechten Opposition und den restaurativ-monarchistischen Kräften ab, die unter konstitutionalistisch-liberalen Parolen und mit säkularer Rhetorik die alte Pahlavi-Dynastie – das Schah-Regime – wieder herstellen wollen. Drittens wird in der Charta sowohl den autoritären Politikformen von oben wie auch den stellvertretenden Politikformen durch Parteien eine Absage erteilt. Die Unterzeichner:innen plädieren dagegen für eine selbstbestimmte, diverse und dezentrale Politik von unten und vertreten somit eine basisdemokratische Perspektive. Sie schreiben in dem Bewusstsein, dass die Verwirklichung dieser Forderungen mit dem Fortbestand der bestehenden Machtverhältnisse im Iran nicht zu vereinbaren ist. Vielmehr scheint es darum zu gehen, einen allgemeinen Rahmen zu skizzieren, der die Gemeinsamkeiten in den politischen Forderungen der progressiven Kräfte betont und somit die Weichen für einen revolutionären Ausgang aus der strukturellen Krise des Irans stellt.

Insofern bietet die Charta den linken und progressiven Kräften die Möglichkeit zu selbstbestimmten Diskursen, zu selbstorganisierten Aktionsfeldern und -räumen, zu einer kollektiven gesellschaftsumwälzenden Praxis. Bis jetzt wurde die Charta von vielen linken und progressiven Organisationen, Aktivist:innen, Frauenrechtler:innen, Intellektuellen und Akademiker:innen usw. mit emphatischen und kämpferischen Worten begrüßt. Wann aber diesen Worten Taten folgen, wird sich zeigen.

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Frau, Leben, Freiheit

Charta der Mindestforderungen der unabhängigen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen

Dem rechtschaffenen und freiheitsliebenden Volk Irans!

Am vierundvierzigsten Jahrestag der iranischen Revolution von 1979 ist das ökonomische, politische und soziale Fundamt des Landes so tief im Strudel der Krise und des Zerfalls versunken, dass im Rahmen der bestehenden politischen Verfassung keine Perspektive zur Überwindung dieses Zustands vorstellbar ist. Deswegen haben das unterdrückte Volk Irans, die Frauen und die freiheits- und gleichheitsliebende Jugend mit beispielloser Selbstaufopferung zur Beendigung dieses realexistierenden menschenfeindlichen Zustandes landesweit die Straßen und Städte in ein historisches Kampffeld verwandelt. Und trotz der blutigen Niederschlagung der Proteste geben sie seit fünf Monaten keine Sekunde Ruhe.

Die Fahne dieser radikalen Proteste, die heute durch Frauen, Schüler:innen, Lehrer:innen, Arbeiter:innen, Kläger:innen, Künstler:innen, Schriftsteller:innen, durch alle unterdrückten Schichten der iranischen Bevölkerung an vielen Orten des Landes – von Kurdistan bis Belutschistan – getragen wird, und die eine bis dato kaum vergleichbare internationale Unterstützung erfährt, steht für den Protest gegen die Frauenfeindlichkeit und die Geschlechterdiskriminierung, gegen die ungeheure ökonomische Unsicherheit und die Sklaverei der Lohnabhängigen, gegen das Elend und die Klassenunterdrückung, gegen die Unterdrückung aufgrund der ethnischen, nationalen und religiösen Zugehörigkeiten. Diese Proteste sind eine Revolution gegen jegliche Form des Despotismus, sei er religiös oder antireligiös  begründet. Der Despotismus wurde uns – allen Teilen der iranischen Bevölkerung – mehr als ein Jahrhundert aufoktroyiert.

Diese aufwühlenden Proteste gehen aus den großen und neuen sozialen Bewegungen, aus dem Aufstand einer unbesiegbaren Generation hervor. Diese Generation ist fest entschlossen, sowohl der hundertjährigen Geschichte der Unterentwicklung wie auch der Unterdrückung der Ideen zur Errichtung einer modernen, wohlhabenden und freien Gesellschaft, ein Ende zu setzen.

Nach zwei großen Revolutionen[2] in der zeitgenössischen Geschichte Irans stehen die großen fortschrittlichen sozialen Bewegungen – wie die Arbeiter:innen- und Lehrer:innenbewegung, die Frauenbewegung für die Gleichstellung der Geschlechter, die Studierenden- und Jugendbewegung, die Rentner:innenbewegung, die Bewegung gegen die Todesstrafe usw. – nun in der historisch entscheidenden Situation, die politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen grundlegend und von unten umzugestalten.

Deswegen hat diese Bewegung entschieden, die Herausbildung einer Macht von oben für immer unmöglich zu machen. Sie versteht sich als Teil des Aufbruchs zu einer sozialen, neuen und humanen Revolution, die sich für die Emanzipation des Volkes und gegen alle Formen von Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Despotismus und Diktatur einsetzt.

Wir, die gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen als Unterzeichner:innen dieser Charta, halten an der Einheit und der Geschlossenheit der sozialen Bewegungen fest und legen den Fokus auf die Kämpfe zur Beendigung dieser menschenfeindlichen und zerstörerischen Zustände. Wir sind der Auffassung, dass die Verwirklichung der folgenden Mindestforderungen der einzige Weg zur Errichtung einer neuen, modernen und menschlichen Gesellschaft in unserem Land ist. Diese Forderungen sind, wenn man so will, die ersten Verfügungen und somit die ersten Ergebnisse der gegenwärtigen radikalen Proteste des iranischen Volkes. Wir fordern alle aufrichtigen Menschen – diejenigen, deren Herz für Freiheit, Gleichheit und Emanzipation schlägt –, auf, egal wo sie sind, ob in Fabriken oder in Universitäten, in Schulen oder Stadtteilen oder in der Weltöffentlichkeit, die Fahne dieser Mindestforderungen zu erheben und auf die Gipfelspitze der Kämpfe für Freiheit zu tragen.

1. Sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen; Entkriminalisierung der politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten; öffentliche Prozesse gegen alle Verantwortlichen – befehlende wie ausführende Personen –, die an der Niederschlagung der Proteste beteiligt waren und sind.

2. Bedingungslose Meinungs-, Rede-, Gedanken- und Pressefreiheit; uneingeschränktes Recht auf Bildung von Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen – regional und landesweit; uneingeschränktes Recht auf Streik, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit; unbedingtes Recht auf den freien Zugang und die freie Nutzung von Audio-, Video- und Sozialmedien.

3. Unverzügliche Annullierung der Todesstrafe und des islamischen Vergeltungsgesetzes (qesas); Verbot jeglicher Form und jeglicher Art von psychischer wie physischer Folter.

4. Sofortige Gleichstellung von Frauen und Männern in allen politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen; Bedingungs- und ersatzlose Aufhebung aller Gesetze und Formen von Diskriminierung gegen diverse Geschlechtsidentitäten; bedingungslose Anerkennung einer Regenbogengesellschaft LGBTQIA; Entkriminalisierung der Geschlechterdiversität; Anerkennung aller Rechte von Frauen auf ihren Körper und auf ihr Schicksal; Sanktionierung der patriarchalen Kontrolle und Gewalt über Frauen.

5. Religion ist Privatsache der Individuen, sie darf sich weder in die politischen, ökonomischen und kulturellen Angelegenheiten des Landes einmischen noch diese mitbestimmen.

6. Gewährleistung der Arbeits- und Berufssicherheit; umgehende Lohnerhöhung für Arbeiter:innen, Lehrer:innen, Angestellte, kurzum: für alle Beschäftigten; Rentenerhöhung. Dies muss unter direkter Beteiligung der rechtmäßigen Vertreter:innen der Werktätigen an den Entscheidungsprozessen bzw. durch Mitbestimmung der rechtmäßigen Vertreter:innen in den unabhängigen Interessenvertretungen und -verbänden erfolgen.

7. Annullierung aller Gesetze und Tendenzen, die die ethnische/nationale und religiöse Unterdrückung und Diskriminierung fördern; Schaffung der Infrastrukturen für eine gerechte Umverteilung der staatlich-öffentlichen Ressourcen zur Entwicklung der Kultur und Kunst in allen Landesteilen; Bereitstellung der notwendigen, gleich verteilten Mittel zum Lernen und Lehren in allen gebräuchlichen Sprachen unserer Gesellschaft.

8. Abschaffung aller Repressionsapparate; Einschränkung der staatlichen Befugnisse; Ermöglichung der direkten Partizipation der Bevölkerung an den gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen des Landes durch die regionalen und landesweiten Räte. Das Recht auf die Absetzung der staatlichen sowie nichtstaatlichen Bevollmächtigten und Deputierten zu jeder Zeit muss als Grundrecht des Wahlvolkes anerkannt werden.

9. Enteignung der Vermögen aller rechtlichen und natürlichen Personen, der staatlichen, semistaatlichen und der privaten Institutionen, die unmittelbar oder mittelbar an der Plünderung des Eigentums und Reichtums des iranischen Volkes durch die gesetzeswidrige Aneignung der staatlichen Rente[3] beteiligt waren. Der durch diese Enteignung abgeschöpfte Reichtum muss unverzüglich für den Aufbau und die Modernisierung des Bildungswesens, der Rentenkassen und des Umweltschutzes ausgegeben werden, ebenso für den Bedarf der vernachlässigten Landesteile – also für diejenigen, die sowohl unter der Herrschaft der Islamischen Republik wie unter der des monarchischen Regimes zuvor Not gelitten haben und über kaum materielle und soziale Ressourcen verfügten und verfügen.

10. Beendigung der Umweltzerstörung; Ausführung einer fundamental neuen Politik für den Aufbau der Infrastrukturen zum Schutz der Natur – diese Infrastrukturen wurden während der letzten hundert Jahre zerstört; Erklärung von Teilen der Natur (wie Weideland, Strände, Wälder und Gebirgsausläufer) zum Gemeindeeigentum. Diese natürlichen Ressourcen gehörten vormals den Gemeinden, aber durch Privatisierung wurde dem Volk das allgemeine Nutzungsrecht entzogen.

11. Verbot der Kinderarbeit; Gewährleistung der sozialen Sicherung und der Bildungsförderung, und zwar unabhängig von der ökonomischen und sozialen Lage der Familien; Anhebung des allgemeinen Wohlstandes durch eine Arbeitslosenversicherung, durch eine robuste soziale Sicherung für arbeitsfähige, arbeitswillige wie arbeitsunfähige Personen; kostenlose Bildungs- und Gesundheitsdienste für alle.

12. Normalisierung der außenpolitischen Beziehungen bis zur höchsten Ebene mit allen Ländern aufgrund einer gerechten und auf gegenseitigen Respekt und Verantwortung beruhenden Beziehung; Verbot von Atomwaffen und ein starkes Engagement für den Weltfrieden.

Wir sind der Auffassung, dass unsere Mindestforderungen augenblicklich realisierbar sind, wenn wir die vorhandenen und potenziellen Naturschätze des Landes, die Leistungs- und Wissensressourcen des Volkes sowie eine Generation von Jugendlichen, die über eine hohe Motivation zur Verwirklichung eines fröhlichen, sorgenlosen und freien Lebens verfügt, in Betracht ziehen.

Die in dieser Charta formulierten Forderungen präsentieren einen allgemeinen Rahmen als Ausgangspunkt. Selbstverständlich werden wir diese Forderungen im weiteren Verlauf der Kämpfe und der solidarischen Zusammenarbeit noch konkreter und präziser fassen.

Koordinationsrat gewerkschaftlicher Organisationen der Lehrer:innen, Freie Gewerkschaft der Arbeiter:innen Irans, Union studentischer Organisationen (Vereinigte Studierende), Verein der Verteidiger:innen von Menschenrechten, Syndikat der Arbeiter:innen der Zuckerrohrfabrik von Haft-Tapeh, Rat für die Organisierung der Proteste von Werkarbeiter:innen in der Erdölindustrie, Haus der Lehrer:innen, Erwachte Frauen, Stimme der Frauen Irans, Unabhängige Stimme der Arbeiter:innen der nationalen Stahlindustrie von (Stadt) Ahwaz, Verein der Verteidiger:innen der Arbeiter:innenrechte, Gewerkschaftsverein der Metall- und Elektrizitätsarbeiter:innen von (Stadt) Kermanschah, Koordinationskomitee zur Unterstützung für den Aufbau der Arbeiter:innenorganisationen, Vereinigung der Rentner:innen, Rat der Rentner:innen Irans, Organisation progressiver Studierender, Rat freidenkender Schüler:innen Irans, Syndikat der Maler:innen der Provinz Alborz, Komitee zum Aufbau der Arbeiter:innenorganisationen, Rat der Rentner:innen in Organisation sozialer Sicherung.

14. Februar 2023

Kommentar und Übersetzung aus dem Persischen von Said Hosseini

Hintergrund: Said Hosseini: (Zurück-)Eroberung des Lebens. Langfassung des Beitrags aus express 1/2023 als pdf.
Hier ist der Beitrag in Kurzfassung auf Englisch zu finden. [shorter english version]


[1] https://www.akhbar-rooz.com/193002/1401/11/26/

[2] Gemeint sind die Konstitutionelle Revolution von 1906 gegen die Qadscharen-Dynastie (1779–1925) und die Revolution 1979 gegen die Pahlavi-Dynastie (1925-1979). (Anm. d.Ü.).

[3] Gemeint sind u.a. die durch staatliche Banken vergebenen Kredite zu extrem günstigen Zinskonditionen, die unter dem Marktpreis verkauften oder gepachteten staatlichen Immobilien, Minen und Betriebe bis hin zum „Monopolrecht“ auf die Ein- und Ausfuhr lukrativer Waren, auf Investitionen in den profitablen Bereichen der Wirtschaft sowie Privilegien bezüglich der Erhebung von Steuern und Zöllen; zu nennen ist hier auch der Zugang zu internen Informationen, die für Geschäfte und wirtschaftliche Aktivitäten von Bedeutung sind (Anm. d.Ü.).